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Israel-Studienfahrt: Komplexe Verknüpfungen von Geschichte, Politik und Religion

Studierendengruppe der Israelreise

Im vergangenen Sommer fand eine knapp dreiwöchige Studienfahrt nach Israel statt. Prof. Dr. Jörg Lanckau organisierte und begleitete die Gruppe (zusammen mit Co-Leiterin Johanna Füssel) und berichtet im Folgenden über die Reise, an der unter anderem 14 Studierende der EVHN teilnahmen aus den Studiengängen Soziale Arbeit, Sozialwirtschaft, Pflege Dual, Gesundheits- und Pflegepädagogik, Diakonik sowie Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit. Vier ehemalige Studierende der Religionspädagogik, die bedingt durch die Pandemie während ihres Studiums keine Reise erleben konnten, jetzt im Referendariat/Vorbereitungsdienst oder ersten Amtsjahren sind, konnten ebenfalls teilnehmen. Sechs Studierende aus dem Evangelischen Theologiekurs Graubünden ergänzten die Gruppe international.

"Eine solche gemischte Gruppe aus einerseits deutschen und schweizerischen Teilnehmenden, andererseits beruflich Aktiven sowie Studierenden bot eine besondere Chance des Austauschs über Erlebtes und Erfahrenes, da er für sich bereits multiperspektivisch angelegt war. Die Ereignisse rund um „den“ Nahostkonflikt konnten so noch einmal auf eine andere Reflexionsbasis gestellt werden. Die deutschsprachige Bezeichnung „Naher Osten“, sowie der Singular „der Nahostkonflikt“ stellen bereits Verengungen des europäischen Blicks dar. Die Hinzunahme einer schweizerischen Perspektive in den Reflexionsprozess erweitert zudem die oft auf Deutschland und seine spezifische Geschichte und Verantwortung fokussierte Reflexion erheblich. 

Bildungsziel der Reise war, die komplexen Verknüpfungen von Geschichte, Politik und Religion – primär in der Stadt Jerusalem, aber auch dem Staat Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten – besser oder zumindest ansatzweise zu verstehen. Dem Verstehensprozess dienten neben den täglichen größeren und kleineren Exkursionen sowie Gesprächen unterwegs die täglichen Reflexionsseminare in unserer Unterkunft. Besonders hervorzuheben ist dabei das Seminar mit Dr. Martin Peilstöcker (Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Bibelhaus Frankfurt) zur (damalig) aktuellen politischen Lage in Israel, hier speziell zu den Protesten rund um die Änderungen an der Verfassung, die das Kabinett Netanyahu anstrebt.

Bei all dem konnten wir im Sommer 2023 die Dynamisierung der Ereignisse und Diskurse, die sich seit dem terroristischen Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 ergaben, noch gar nicht in den Blick nehmen. Rückblickend sind wir dankbar, dass wir als Reisegruppe nicht in gefährliche Situationen direkter Kampfhandlungen gekommen sind. Andererseits habe ich als Reiseleiter im Herbst mit vielen der Teilnehmenden gesprochen, und alle sagten mir, dass ihnen die Reise gerade anhand der heutigen Diskurse Wissen und damit auch Kompetenzen vermittelt habe, die oft simplifizierenden und einseitigen Diskussionen über die Thematik zu durchschauen und auch die eigene Ansicht gut begründet darlegen zu können. Die Diskurse nach dem 7. Oktober 2023 sind so zum Prüfstein des während der Reise Erlernten geworden.

In mehreren Rundgängen zu Fuß in Jerusalem erkundeten wir die multikulturelle und multireligiös geprägte Stadt. Die Zeugen der Vergangenheit sind aber oft selbst in ihrer Interpretation umstritten: Umso besser war es, kompetente Gesprächspartner vor Ort zu haben. Einige sind besonders hervorzuheben: Dr. Martin Peilstöcker, der über 20 Jahre bei der der israelischen Antikenverwaltung gearbeitet hat, nahm uns in den neuen Gebäudekomplex derselben mit, wo wir einen wissenschaftlich fundierten Blick in die Arbeit der Archäologinnen und Konservatoren erhalten konnten. Prof. Dr. Dr. Dieter Vieweger ist Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für die Altertumswissenschaft des Heiligen Landes. Ihm und seinem ganzen Team verdanken wir die Rundgänge in aktuellen Ausgrabungen am Zionsberg sowie der Ausstellung „Durch die Zeiten“ an der Erlöserkirche und natürlich den spannenden Besuch des Instituts selbst, welches als einziges die Möglichkeit hat, in Jordanien und Israel zu graben. Dabei kamen immer und parallel die politischen Themen zur Sprache. Die Archäologie im Land ist politisch: Grabungsorte liegen keineswegs in unbewohnten Gegenden, und Ergebnisse werden immer auch politisch und religiös interpretiert. Selbst ihre Präsentation und Interpretation in Museen ist Teil der politischen Wirklichkeit – darum besuchten wir nicht nur das moderne Israel-Museum, sondern auch das, zu diesem gehörende, ältere Rockefeller-Museum im muslimisch bewohnten Teil Jerusalems. Neben den privaten Sammlungen des Bible-Lands-Museums spielten die aktuellen, von Siedler-Organisationen geprägten jüdischen Ausgrabungen der Western-Wall-Foundation und der City of David eine Rolle, wobei wir mit den israelischen Guides ins Gespräch kamen.

Ein Highlight für alle Teilnehmenden war unser zweiter Besuch auf dem Tempelberg. Bereits der erste Besuch kurz nach unserer Ankunft gab uns eine Orientierung über diesen geschichtlich spannenden und politisch brisanten Ort. Ich konnte im Islamischen Museum meine Kontakte reaktivieren und habe dann die nächsten Tage intensiv mit WAQF-Vertretern (WAQF: arab. „fromme Stiftung“. Die Organisation übt seit 1967 im Auftrag und unter der Hoheit des Königreichs Jordanien sowie mit Einverständnis des Staates Israel die Aufsicht über die islamischen Stätten auf dem Tempelberg in Jerusalem aus) gesprochen und entsprechende Anträge gestellt. Ich bin Avni Bazbaz sehr dankbar, dass er uns ermöglichte, mit 37 Studierenden die heiligen Stätten der Muslime von innen zu besuchen, und sich für uns knapp zwei Stunden für intensive Gespräche, den Besuch des Felsendoms sowie des islamischen Museums Zeit nahm. Ich bekam sogar die Möglichkeit, noch drei Studierende der Augustana-Hochschule Neuendettelsau zu diesem Besuch mit einzuladen, welche unter Leitung von Prof. Dr. Michael Pietsch in Jerusalem an einer Ausgrabung teilnahmen. Der intensive Austausch am Haram as Sharif eröffnete uns neue Einsichten in muslimische Perspektiven auf die aktuellen Entwicklungen in Israel, den Autonomiegebieten sowie des Gazastreifens.

Wer den modernen Staat Israel im Jahr seines 75. Jubiläums verstehen möchte, muss sich mit der zionistischen Bewegung und der Shoa beschäftigen. Wir besuchen daher Yad WaShem (wie geplant mit der Light Rail mit ihrer durchaus bewegten Entstehungsgeschichte und aktuellen Bedeutung), aber auch das benachbarte Herzl-Museum – beide Orte sind für die Staatsgründung historisch in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen.

Neben dem spannungsreichen Verhältnis der arabisch-muslimischen und der jüdischen Bevölkerung beschäftigen wir uns mit der außerordentlichen Vielfalt christlicher Präsenzen in der Stadt. Der Rektor des Österreichischen Pilger-Hospiz Jerusalem, Hon. Prof. MMag. Markus St. Bugnyár nahm sich für uns Zeit für ein spannendes Seminar zu den Christen in Jerusalem sowie Gespräche über die aktuelle Situation christlicher Präsenz im muslimischen Viertel. Aus Krankheitsgründen musste der geplante Vortrag von Dr. Petra Heldt in der Grabeskirche kurzfristig abgesagt werden, daher übernahm ich selbst die Führung. Unsere Unterkunft lag ebenfalls fußläufig am Rande der Altstadt, und ist ein christlicher Pilgerort, der nicht nur von den französischen Assumptionisten, sondern auch von viele arabischen Mitarbeitenden christlicher Herkunft geprägt wird (St. Peter in Gallicantu). Zudem besuchten wir natürlich die deutsche evang. luth. Gemeinde (Erlöserkirche), wo wir mit dem Propst Joachim Lenz ins Gespräch kamen.
Wir besuchten die historischen Orte am Toten Meer (Masada und Qumran) mit einem arabisch-christlichen Busunternehmen (NET Tours).

Die Verlängerungsoption in Galiläa, welche die EVHN-Teilnehmenden vollumfänglich wahrnahmen, bot uns neben den Besuchen christlicher Ausgrabungsprojekte und Pilgerstätten (Magdala, Kapernaum, Tabgha, Berg der Seligpreisungen, Nazareth) noch ein besonderes Highlight: Wir nahmen an einem Tag an einer Grabung am Tel Hazor teil, vermittelt durch meine Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Benedikt Hensel (Oldenburg)."

 

Aufgrund der Ereignisse vom 7. Oktober 2023 hat Prof. Dr. Jörg Lanckau am 30. Oktober eine Informationsveranstaltung zum „Nahostkonflikt" an der EVHN gehalten. 
Zudem bietet er im Sommersemester im Rahmen des Studium Generale wieder das politisch orientierte Wahlfach „Israel und Palästina heute“ an.

 

Text und Bild: Prof. Dr. Jörg Lanckau, Studiengangsleitung Bachelorstudiengang Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit